Im Rahmen der Eröffnung der Salzburger Festspiele hat der Historiker, Schriftsteller und Journalist Philipp Blom eine bemerkenswerte kluge Rede gehalten. In seiner tiefgründigen Analyse behandelt er das, was viele Menschen heute fühlen: Angst vor der Zukunft.

Philipp Blom ist ein Kind der Aufklärung. Als 14-jähriger findet er das Leben undurchschaubar und unerklärbar. Zum Glück lebt er in einem Haus mit Bücherschrank. Er stöbert darin, findet Die Kritik der reinen Vernunft und beginnt darin zu lesen. Nachdem ihm Immanuel Kant keine befriedigende Antwort auf seine Fragen geben kann, legt er das Buch enttäuscht zur Seite. Doch das Naschen vom Baum der Erkenntnis inspiriert ihn, er will mit der Vernunft eine Landkarte zeichnen, mit der er sich in der für ihn undurchschaubaren Welt orientieren kann. Für ihn ist die Aufklärung …

… der Versuch, das kritische Denken und den Respekt vor Fakten höher zu achten als Meinungen, Vorurteile, Gefühle, Traditionen oder Dogmen.

Dieses Prinzip sieht er bedroht und in die Defensive geraten. Fake News werden nicht mehr nur anonym in Foren und sozialen Medien verbreitet, Politiker wie Donald Trump haben die Lüge salonfähig gemacht und in Europa finden sich Politiker, die diesen Stil nachahmen. Wenn der ungarische Ministerpräsident seine Ideen von der jüdischen Weltverschwörung verbreitet, dann sind das für FPÖ-Klubobmann Gudenus eben „stichhaltige Gerüchte“. Die Anhänger der Aufklärung, die auf die Fakten achten, müssen zusehen, wie sich dieser und noch viel größerer Unsinn wie ein Virus in sozialen und sonstigen Medien verbreitet, und sich in den Köpfen der Menschen festsetzt:

Die Demontage der Aufklärung reicht weit über Europa hinaus. Auf dem ganzen Globus entstehen autokratische Staaten, werden längst überwunden geglaubte, autoritäre Strukturen und nationalistische Identitäten zum Programm oder zur Praxis, verlieren Wahrheit und Wissenschaft an Verbindlichkeit, greift freiwillige Verdummung Raum.

Er konstatiert, dass sich viele Menschen aus der Verantwortung und aus der Demokratie zurückziehen. Liberté, Égalité, Fraternité – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, dieser Grundsatz verkommt für ihn zur Phrase:

Wir bewegen uns zwischen den Kulissen der Aufklärung wie Schauspieler mit dem falschen Text, im Bühnenbild eines längst abgespielten Stücks.

Das universelle Denken und die universellen Menschenrechte wurden aus seiner Sicht deshalb abgelöst, weil wir in unserem Paradies bedroht sind. Die Gesellschaft befindet sich im Rückzug auf das Eigene, die Nation, die Grenze. Ein Zwei-Klassen-Menschenrecht hat sich etabliert:

Wer im reichen Westen geboren ist, hat mehr Rechte, mehr Freiheiten, mehr Chancen – und das auch auf Kosten anderer.

In der Psychoanalyse beschreibt die Regression den Abwehrmechanismus, der bei Menschen eintritt, wenn sie Angst haben – sie ziehen sich auf eine frühere Stufe ihrer Persönlichkeitsentwicklung zurück. Für viele Menschen sind Angst und Unsicherheit zum Basso continuo ihres Lebens geworden. Wir sind unsicher ob wir unseren Lebensstandard auch zukünftig halten können. Wir haben Angst unseren Job zu verlieren und in der Folge, weil wir schon älter sind, keinen passenden mehr finden. Welche Chancen werden unsere Kinder haben, wie werden sie ihren Weg in dieser chaotischen Welt finden? Unsere Gesellschaft hat etwas zu verlieren, das ist uns in den letzten Jahren bewusst geworden. Erklärt das den Rückzug, die Regression?

Für Philip Blom geht die ungewisse Zukunft einher mit dem Verlust von Hoffnung und dieses Empfinden steht im Widerspruch zur herrschenden Wirtschaftsordnung, die einen anderen Takt vorgibt:

Zur Veränderung kommt die Verlogenheit. Politiker und Ökonominnen sprechen von Wirtschaftswachstum, von Innovation und Produktivität, von Vollbeschäftigung und Wohlstand, aber gleichzeitig verdienen immer weniger Menschen immer mehr, während immer mehr Menschen begreifen, dass es für sie keine bessere Zukunft gibt, dass sie zwar für das System funktionieren müssen, das System aber nicht für sie.

Wenn man diesen Gedanken weiterspinnt, dann ist die gegenwärtige Fokussierung der Politik und der Medien auf das Thema Migration, so wichtig es ist, ein Ablenkungsmanöver, um den anderen brennenden gesellschaftlichen Fragen (Zukunft der Arbeit, Digitalisierung, Klima und Umwelt, Verteilungsgerechtigkeit) aus dem Weg zu gehen. Philipp Blom hält eine Transformation des westlichen Lebensstils für notwendig, damit wir das, was kommt, nicht nur erleiden, sondern aktiv mitgestalten können. Effizienzsteigerungen, neue Technologien oder höhere Mauern an den Grenzen – das alleine wird uns nicht mehr helfen, so seine Analyse. Das Prinzip „Mehr vom Gleichen“ erinnert an Heroinsüchtige, die ihre Dosis immer weiter steigern müssen, obwohl sie wissen, dass sie jede Steigerung dem Tod ein Stück näher bringt.

… erst, wenn Menschen wieder einen realistischen Grund zur Hoffnung haben, wird die Angst verschwinden. Dafür brauchen wir den Mut, wieder etwas zu riskieren beim Nachdenken über die Welt und über die eigene Position in ihr. Die Aufklärung ist nötiger denn je, aber nicht in ihrer rationalistischen Verengung oder ihrer ökonomischen Parodie.

Philipp Blom verweist auf Denis Diderot und plädiert für eine neue Aufklärung, welche die Leidenschaft, die Sinnlichkeit und die Lust mit einschließt:

Wir leben nicht aus Vernunft allein; wir verdanken unser Leben buchstäblich dem Begehren, dem Eros, der uns täglich antreibt weiterzumachen, der uns den Mut gibt, Rückschläge zu überwinden, neue Möglichkeiten zu suchen, mit anderen zu kommunizieren.

Dazu gehört aus seiner Sicht, dass wir uns ganz im Sinne wissenschaftlicher Erkenntnis nicht als Krone der Schöpfung sondern als Teil der Natur verstehen. Philipp Blom vergleicht unser Verhalten mit dem des unersättlichen Hefepilz, der solange Zucker frisst bis er am Ende, wenn alle Reserven aufgebraucht sind, an seinen eigenen Ausscheidungen erstickt:

Aber anders als Hefepilze kann Homo sapiens sein Verhalten durch Verständnis, Fantasie und Empathie ändern — und so vielleicht eine Zukunft möglich machen, in der die Ökonomie als Teil der Ökologie begriffen wird und Menschen als Primaten, die dazu neigen, sich selbst hoffnungslos zu überschätzen. Das wäre riskant für unseren Wohlstand und den Status quo. Das wäre aufklärerisch.

Es lohnt sich die komplette Rede Philipp Bloms nachzulesen. Außerdem ist auch das Interview, das Frank André Meyer im Jahr 2016 im Rahmen der Sendereihe Vis á Vis mit ihm geführt hat, sehr aufschlussreich: